Differentialsperren in Allrad-Fahrzeugen

Differentialsperren in Allrad-Fahrzeugen

12. November 2020 32 Von Mikesch

Corona-Zeit und graue Novembertage, da habe ich doch wieder etwas Zeit, um mir Gedanken über die unwichtigen Dinge des Lebens zu machen, so wie z.B. Allrad und Differentialsperren 🙂

Warum? Immer wenn ich von einigen meinigen lustigen Erlebnissen berichte, kommt solch ein Spruch wie: “Bau Dir doch ne Hinterachsdifferentialsperre ein.”
Echt jetzt, selbst bei einigen OffRoadern frage ich mich, haben die eigentlich Ahnung davon, was da wirklich passiert um mir solch einen Tipp zu geben?
Deshalb dieser Artikel zum Verständnis, beginnend bei Adam und Eva.

Truck im Matsch
Truck im Matsch

Seit dem wir unseren kleinen Russen haben, haben sich meine Offroad-Erfahrungen ein wenig erweitert und vor allem habe ich mich mehr mit der Technik auseinander gesetzt.
Meine ersten Erfahrungen mit modernen elektronischen, ich nenne sie mal Sperrhilfen wie 4ETS bei Mercedes, waren mit unserem Sprinter. Wie im Bericht Bimo im Sand zu lesen und im Video bei 3:50 zu sehen, versagte das ja vollends. Dann kommen die schlauen Leute und meinen, ich solle doch eine Hinterachsdiffentialsperre einbauen lassen und alles wird gut.
Auh Mann…
Anmerkung: Manchmal schreibe ich Differential, manchmal Differenzial. Laut Duden ist das wurscht. Ob da nun ein “t” oder “z” steht, war abhängig von meinen dicken Fingern und beide Variationen sind besser für Google

Was ist ein Differenzial und warum ist jenes notwendig?

Ohne Differenzial würden sich die Räder auch in Kurven gleich schnell drehen und die Straßenlage würde instabil werden. Deshalb muss sich das äußere Rad einer Achse etwas schneller drehen als da Innere.
Die Kraft des Antriebs soll ja auf beide Räder einer Achse verteilt werden, also müssen die unterschiedlichen Drehbewegungen ausgeglichen werden. Dies wird in der Regel durch zwei umlaufende Kegelzahnräder erreicht. Dreht sich ein Rad z.B. in einer Kurve schneller, rotieren diese zum Ausgleich um die Zahnkränze der Antriebsräder. So wird die Antriebskraft auf beide Räder verteilt, obwohl sie sich unterschiedlich schnell drehen.
Ausführlich bebildert mit den unterschiedlichen Systemen erklärt wird das in der Wikipedia->

Warum eine Differenzialsperre?

So lange beide Räder einer Achse den gleichen Grip haben, verteilt sich auch die Antriebskraft gleichmäßig.
Verliert aber ein Rad den Grip, z.B. im Gelände, Schnee, Matsch, auf einer Wiese oder überhaupt immer, wenn sich ein Rad z.B. auf Asphalt und das Andere im Matsch befindet, dreht dieses bedingt durch die (Ausgleichs-)Kegelräder durch. Alle Kraft geht dann auf das durchdrehende Rad über und man steckt fest.
Abhilfe schafft hier nur eine Differentialsperre, bzw. ein Sperrdifferential welches die Kegelräder sperrt, so dass sie nicht mehr umlaufen können. So wird die Antriebskraft gleichmäßig auf beide Räder einer Achse verteilt verteilt.
Hierzu gibt es unterschiedliche Formen und Möglichkeiten die in der Wikipedia erklärt werden. Allerdings wird dort auf die Wichtigste, die starre mechanische 100%-Sperre unverständlicherweise nicht eingegangen.

Matschweg

Differentialsperren in Allrad-Fahrzeugen

Allrad-Fahrzeuge mit elektronischer Regelung

Mercedes z.B. hat das 4ETS (ElektronicTraktionSystem). D.h., dreht ein Rad durch, wird es durch Messung der unterschiedlichen Drehbewegungen über die ABS-Sensoren über die Bremse abgebremst und die Kraft dadurch auf die anderen Räder verteilt. Theoretisch und laut Mercedes-Werbung werden hierdurch drei Sperren simuliert.
Soweit die Theorie, das funktioniert aber zumindest bei Mercedes nur, wenn alle Räder in Bewegung sind. Steht das Fahrzeug und ein Rad dreht durch, arbeitet das 4ETS nicht mehr richtig und der Sprinter rührt sich keinen Millimeter von der Stelle. Sehr schön hier im Video bei 3:50 zu sehen.
Tipps, man solle eine Hinterachssperre einbauen, sind absolut dummes Zeug!
Es kann ja trotzdem zumindest ein Rad auf der vorderen Achse durchdrehen und der Sprinter bleibt immer noch stehen! Die elektronischen Systeme sind schlicht nicht OffRoad-tauglich, da immer eine Mindestgeschwindigkeit, bzw. Drehbewegung aller Räder vorhanden sein muss!
Kann man aber mit Geduld überlisten, wenn man den Fuß aufs Gaspedal hält. Das 4ETS ist aber so träge, dass man sich dann längst eingegraben hat, bis es reagiert. Wenn es dann reagiert, gräbt sich sofort das andere Rad ein 🙂

Bimo im Sand
Bimo im Sand

Konventionelle Differentialsperren

Nur eine echte mechanische Differentialsperre ist deshalb eine richtige Sperre!
Klar, die Differentiale einer jeder Achse sollten gesperrt werden können. Vergessen wird da gerne eine dritte Sperre, die des Verteilergetriebes (VTG)!
Fährt man durch eine Delle oder über einen Hügel, gibt es einen kleinen Moment, wo sich Vorder- und Hinterachse unterschiedlich schnell drehen.
Durch die Unebenheiten der Fahrbahn oder des Untergrundes, drehen sich Vorder- und Hinterachse immer unterschiedlich!
Hier ist deshalb ein Differenzial im Verteilergetriebe notwendig!

Lada auf Sandpiste

Professionell mit drei Sperren

Im Gelände ist es wichtig, dass alle Räder gleichmäßig drehen, keine Kraft durch durchdrehende Räder vergeudet wird und das Fahrzeug stehen bleibt. Das ist nur möglich, wenn jede Achse und auch das Verteilergetriebe zu 100% gesperrt werden können.
Sperrt man nun die Differentiale der Vorder-, Hinterachse und des Verteilergetriebes, ist der gesamte Antriebsstrang starr verbunden und alle Räder können sich nur noch gleich drehen. Die Kraft wird auf alle Räder gleichmäßig verteilt.

Die wichtigste Differenzialsperre, die des Verteilergetriebes (VTG)

Klar, drei Differenzialsperren sind toll und der Königsweg, aber sind sie auch wirklich notwendig, reicht nicht nur eine Sperre? Wenn ja, welche?

Schnee

Würde man nur eine Achse, wie der oft erfolgte untaugliche Tipp mit der Hinterachse sperren, was dann? Dann können sich die Räder der Vorderachse trotzdem munter weiter drehen und man sitzt fest. Umgekehrt ist es natürlich das Gleiche.
Also dann Vorder- und Hinterachse Sperren? Das bringt ebenso kaum bis gar nichts, da die Räder einer Achse trotzdem durchdrehen können! Wie das?
Das Verteilergetriebe (VTG), da sitzt auch ein Differential um die unterschiedlichen Drehbewegungen der Antriebsstränge auszugleichen! Wenn eine Achse im Verhältnis zur Anderen an Grip verliert, dreht sie halt durch.

Darum macht es keinen Sinn, die Achsen zu sperren, wenn nicht gleichzeitig das Verteilergetriebe ebenso gesperrt wird!!

Also verzichten wir auf die Achsen und sperren nur das Verteilergetriebe, was passiert dann?
Die Antriebswellen nach vorne und hinten können sich nur noch gleich drehen. Dadurch können die Räder einer Achse nicht mehr durchdrehen. Ebenso ist es unmöglich, dass ein einzelnes Rad durchdrehen kann.

Dadurch ist Sperre des Verteilergetriebes grundsätzlich völlig ausreichend und man kann auf die Achssperrdifferentiale verzichten!

So hat das im Übrigen auch Lada und Nissan gelöst. Lada sperrt lediglich das Verteilergetriebe und der kleine Russe kommt wahrlich nahezu überall durch. Bei Nissan ist das Verteilergetriebe grundsätzlich starr bei Einschalten des Allrades.

Matschpiste
Matschpiste

Aber halt, eine, wenn auch sehr seltene Situation, wo man auch mit alleiniger Sperre des Verteilergetriebes stecken bleibt:
Wenn je ein Rad einer Achse gleichzeitig den Grip verliert, wobei der schwache Grip dieser beiden Räder wirklich gleich sein muss!
Diese beiden Räder können dann in der Tat durchdrehen und das Fahrzeug bleibt stehen. Wobei, wenn man nur eines dieser beiden Räder Grip verpasst, geht es wieder weiter…

Fazit

Lasst euch für euren modernen elektronisch geregelten Mercedes-Allrad keine, vor allem einzelne Achssperren andrehen, das taugt nichts! Im Gegenteil, das ist eher ein Nachteil und ihr kommt weniger weit, weil die elektronische Regelung 4ETS abgeschaltet wird!
Entweder, ihr baut komplett auf permanent Allrad mit allen Sperren um, oder lasst es bleiben!
Wenn es möglich ist, dann nur eine Sperre und zwar die des Verteilergetriebes, diese reicht für fast alle Situationen völlig aus!
Gab es mal bei Oberaigner, leider macht es jetzt niemand mehr.
In der Regel wäre für den Sprinter eine Hinterachssperre als 4×2 völlig ausreichend, nur höher legen sollte man ihn unbedingt.

Iglhaut bietet auch eine einzelne Hinterachssperre für den Allrad an, sagt dann aber auch ganz klar, dass der Allrad dann bei Einlegen der Sperre abgeschaltet werden muss!

Drei Sperren sind der Königsweg, ist aber teuer in der Anschaffung oder im Umbau. Lohnt sich m.E. eher nur für einen kleinen Personenkreis die wirklich HardCore Gelände fahren.

Ganz preisgünstig ist es, wer einen Hecktriebler hat und eine mechanische 100%-Hinterachssperre einbauen lässt. Der kommt damit garantiert weiter als all die mit ihren modernen elektronischen Wiesen-4×4 wie unsereiner seiner 😉
Nur für Bodenfreiheit muss er sorgen..

Die Beste und günstigste geländegängige Möglichkeit ist ein Allrad wo man nur das VTG sperren kann wie beim Lada, tja, die bietet leider niemand mehr an.

Offroad-Tipps

Grundsatz: Steht das Fahrzeug erst, ist immer Sch…e!

Wer keinen permanent Allrad hat:
Wenn ihr meint, ihr könntet den Allrad vielleicht gebrauchen, schaltet den schon vorher ein! Wenn ihr den Allrad erst einschaltet, wenn ihr ihn braucht, ist es oft zu spät.

Das Gleiche gilt für die Sperre(n). Ist absehbar, dass ihr Sperren brauchen könntet, legt sie vorher ein.
Besser unnütz zugeschaltet als stecken bleiben!
Aber Achtung: Der Untergrund muss immer lose sein, nie auf Asphalt!

Wer über drei Differentialsperren verfügt:
Zuerst die die Wichtigste, die Sperre des Verteilergetriebes (VTG) einlegen!
Die reicht für nahezu alle Situationen des Lebens völlig aus!

Reicht diese Sperre wider Erwarten mal nicht aus, dann zusätzlich die Achs-Sperren und zwar dann IMMER beide gleichzeitig!

Nicht vergessen, die Sperren auf Asphalt oder festem Grund wieder heraus zu nehmen, sonst produziert ihr teuren Metallschrott!

Wer mit einem elektronischem System unterwegs ist, immer darauf achten, dass man genug Fahrt drauf hat und immer schön den Fuß auf dem Gaspedal halten, auch wenns schwer fällt!
Auch wichtig, die ASR (AntiSchlupfRegelung) auszuschalten, sonst wird die Leistung des Motors u.U. so weit herunter geregelt, dass ihr nicht mehr von der Stelle kommt!

Nur ein technischer Tipp: Schaltet den Allrad und alle Sperren ab und zu ein!
Nur wenn die Mechanik gängig ist, könnt ihr euch darauf im Notfall verlassen. Bei längerem Nichtgebrauch streikt die Technik gerne und das ist markenunabhängig!